Ekke

Jugenderinnerungen an einen Freund

von Tilman Schmid Sulz / Tübingen 2016

Es muss in der 2. Grundschulklasse gewesen sein, als wir uns kennenlernten, also im September 1948.
Die damaligen ABC-Schützen und Zweitklässler waren in der alten "Saline" untergebracht, einem geduckten Fachwerkbau, der, jenseits der alten Steinbrücke über dem Neckar, in der Nähe des Wöhrd gelegen, bis in die zwanziger Jahre zu den dortigen Salzsiederanlagen gehört hatte. Das Schwarzweißfoto zeigt die reine Bubenklasse von immerhin 36 Schülern und ihrer Klassenlehrerin, Frau Wacker - welch schöneren Namen könnte es für eine Lehrerin geben - fröhlich gestimmt bei der willkommenen Auszeit für die photographische Dokumentation. Ein Jahr später zogen wir um in die alte Volks- und Lateinschule unterhalb der evangelischen Stadtkirche, wo wir dann aus Mangel an Lehrern mit den Mädchen zusammen sage und schreibe 83 zählten.

1948 Klasse 2 Grundschule Sulz am Neckar

Schulklasse 1948 Auf der Photographie ist Ekke an seinem spitzbübischem Lächeln - vornedran wie oft - zu erkennen. (Der Autor dieses Berichts hingegen sitzt mit eher verträumten Blick in der dritten Reihe von vorn am Fenster).

Unsere Schulleiterin, das Fräulein Mündlein, war eine freundliche Matrone mit wallenden Röcken und einem Gesicht, das ihrem Namen alle Ehre machte, die Lehrer alte Knaben, da die Kriegsgeneration ja gefallen oder in Gefangenschaft war.
Die Familie Rautenstrauch fiel unter den zahlreichen 'Flüchtlingen', die die Gemeinde aufgenommen hatte, nicht nur deswegen auf, weil der Vater ein gutaussehender Gynäkologe war, sondern auch weil Ekkes Mutter etwas großartig Damenhaftes, ja sogar, so schien es uns, Weltläufiges an sich hatte, was in der evangelisch-pietistisch geprägten Gemeinde nicht alltäglich war.
Mein Vater war zwar ein in der Wolle gefärbter Sulzer, als ehemaliger Literat - er hatte in Berlin und München studiert und gearbeitet - hatte er jedoch das Bedürfnis, neue Gesprächspartner zu finden. Meine Mutter, eine geborene Stuttgarterin, fühlte sich in die Provinz verschlagen. So kamen sich unsere Familien rasch näher und schlossen schließlich enge Freundschaft.
Die Rautenstrauchs wohnten am Marktplatz, im ersten und zweiten Stock eines Hauses mit dunklem, gewundenem Treppenhaus, in dem ich mich bei einem der ersten Besuche fragte, wie denn ihr Flügel dort hinaufgekommen war Denn das war für uns etwas Ungewöhnliches: dort im Wohnzimmer im ersten Stock stand ein echter Flügel!

Wir verlebten eine glückliche Schulzeit in Grundschule und Progymnasium mit allem, was damals in der Kleinstadt Sulz mit knapp 5000 Einwohnern dazugehörte: Man traf sich nach der Schule zum Kicken, Fahrradfahren, im Freibad oder im Winter zum Schifahren im Sigmarswanger- oder Glatter Täle, was aber auch einen langen Anmarsch bedeutete, war Bandenmitglied, Pfadfinder, Segelflugmodellbauer, Käfersammler oder spielte Klavier: zuerst, weil es zum gutbürgerlichen Ton gehörte, dann aber auch, weil ein junger, engagierter Klavierlehrer aus Tübingen, Rolf Sturm, einen immer größeren Kreis von Schülern um sich scharte.

Er kam einmal pro Woche, später alle vierzehn Tage, mit dem Zug und gab reihum seinen Unterricht mit Schwerpunkt im Hause Rautenstrauch und im Hause Schmid, wo er auch seine von der Oma Brekle liebevoll gerichteten Vesperbrote einnahm.
Mein Vater war neben seinem Müllerberuf zwar ein gebildeter Akademiker und Verseschmied, doch von Musik verstand er wenig: Das 'Wolgalied' und das 'Land des Lächelns' sagten ihm zu, daneben gefühlige Volkslieder wie 'Im schönsten Wiesengrunde'. Er war sich dessen vollauf bewusst und wollte es auch gar nicht anders, wie er öfters selbstironisch bemerkte. Ganz anders Vater Rautenstrauch: als gebürtiger Sachse, zumal Bach- und Wagnerverehrer ersten Ranges, Klavierspieler und Mitglied des Sulzer evangelischen Kirchenchors, dem 'Bauderverein'.
Durch den Klavierunterricht bei unserem gemeinsamen Lehrer und meine häufigen Aufenthalte bei Ekke zuhause, später auch in Ebingen, ergab sich im Laufe der Zeit ein gesunder Wettbewerb zwischen uns beiden, zunächst in der Schule und auf sportlichem Gebiet, dann immer mehr auf musikalischen Terrain, und schließlich auch beim Umgang mit unseren jungen Damen aus dem Progymnasium und der Klavierschülergruppe. Jeder hatte seine Teilerfolge, bei den Mädchen lag Ekke allerdings weit vorn.

Zurück zum Musikalischen: durch Ekkes Familie zusammen mit dem von uns verehrten Musiklehrer Sturm eröffnete sich uns Provinzlern eine neue Welt, sodass wir bis in unsere Studentenzeit hinein Unterricht nahmen und ein recht beachtliches Niveau erreichten, wobei sich uns im Laufe der sechziger und siebziger Jahre die Möglichkeit bot, zahlreiche, sogar weltberühmte Musiker, vor allem natürlich Pianisten, in Tübingen oder Stuttgart im Konzert erleben zu können.* Diese Affinität zum Musikalischen ist bei Ekke ja auch in seinem malerischen Werk auf Schritt und Tritt zu erkennen.

Gerne denke ich an die zahlreichen Vorspielnachmittage in Sulz, Ebingen und Tübingen zurück, bei denen man mit feuchten Händen nervös auf dem Stuhl herumrutschte, bis man drankam, den 'Konkurrenten' kritisch beäugte und beurteilte, denjenigen, der es hinter sich hatte, beneidete, und manchmal auch beim Auswendigspielen stecken blieb.
Eine Episode möchte ich noch schildern: Ekkes Vater war begeisterter Skifahrer, also ging es auch zusammen in den Skiurlaub, zum Beispiel nach Stuben am Arlberg. Es war die Zeit, als man direkt von der Piste zum Après-Ski in die Alpenrose nach Zürs fuhr, dort die Erwachsenen in Skistiefeln beim Fünfuhrtee ein Tänzchen wagten und wir Jungen einen 'Almdudler' (alkoholfrei) bekamen - den gibt's heute noch! Wir Jugendliche waren damals in einem unverputzten Neubau untergebracht, bei dem ein Raum schon Fenster besaß und zusätzlich einen Holzofen. Geschlafen wurde auf Luftmatrazen in Schlafsäcken - wir waren ja schließlich Pfadfinder mit Sippenführer Hubertus - und wuschen uns nebenan mit einem Schlauch, aus dem nur eiskaltes Wasser schoss und wo der Schneewind Flocken durchs nicht vorhandene Fenster wehte. Bei schlechtem Wetter und starkem Schneefall, wenn Skifahren unmöglich war, hielten wir uns im Hotel Post auf, wo auch die Eltern wohnten.
Dort stand in der Eingangshalle ein Klavier, auf dem man natürlich zu spielen hatte. Zunächst allgemein akzeptierte Stücke, was von den Gästen auch freundlich vermerkt wurde. Als Ekke und ich es allerdings einmal wagten, im Stile etwa Max Regers vierhändig zu improvisieren und wir vor lauter Eifer immer mehr ins Atonale abglitten, legte man uns nahe, die Anwesenden doch lieber nicht weiter zu behelligen. Wir zeigten unsere Verachtung für die Kunstbanausen aber nicht und verzogen uns.
Unsere gemeinsame Schulzeit endete nach der sechsten (heute zehnten) Klasse des Progymnasiums. Ich wechselte auf das Horber Gymnasium und die Rautenstrauchs zogen nach Ebingen. Doch hielten wir natürlich weiterhin engen freundschaftlichen Kontakt.

*Ich möchte nicht versäumen, hier Namen wie Wilhelm Kempf, Michelangeli, Maurizio Pollini und Slatoslav Richter zu nennen.

Schon zwei, drei Jahre vorher hatten wir mit den Eltern Camping- und Zelturlaub in Italien gemacht und dabei die Toskana mit Florenz und Pisa kennengelernt. Für uns waren dies unerhörte neue Eindrücke und gleichzeitig unbeschwerter Urlaub am Meer, ein Urlaub, wie ihn Ekke und ich später als Familienväter in 'la Tranche sur mer' am Atlantik noch mehrfach genossen haben.

Die Rautenstrauchs

Da wir nun aber als Oberstufenschüler auch einmal alleine unsere Erfahrungen sammeln sollten, hatte der Elternrat entschieden, uns mit einer Stuttgarter Sportschule drei Augustwochen lang in eine Jugendfreizeit nach Riva del Garda zu schicken, genauer in einen Weiler namens Deva oberhalb des Städtchens, damals idyllisch zwischen Weinbergen gelegen.
Schon Monate zuvor hatte ich bemerkt, dass Ekke vom Malfieber ergriffen worden war und wohl auch angestachelt durch Schulfreunde und einen progressiven Kunstunterricht sich in diese neue Erfahrung gestürzt hatte. So blieb es nicht aus, dass er sich am Gardasee voll in die Sache hineinkniete, zumal er ja hier den Traum eines jungen Malers - Italien, das Licht des Südens, den Rausch der Farben - intensiv erleben konnte, ja musste. Seine Utensilien hatte er natürlich dabei.

Das Anwesen der Familie Joos lag an dem staubigen Sträßchen zum Tennosee in einer Haarnadelkurve.
Ich sehe es noch heute vor mir. Den unteren Teil der Gebäude bildete ein eher unansehnliches großes Haus, eine Mischung zwischen Straßencafé mit Neonreklame, Lagerhalle und Schuppen. Weiter oben dann das großräumige alte Bauernhaus mit angebauter hoher Terrasse und einer Pergola, überrankt von blassblauen Glyzinien. Dahinter der Gemüsegarten, Palmen, Weinberge und der Gardasee. Im fernen Blau der dunstigen Luft grüßte der Monte Baldo. Vater Joos, ein knorriger, doch nicht unfreundlicher Südtiroler vom Reschenpass, war tagaus tagein im Weinberg tätig und kredenzte uns am Abend seinen erdig-trüben dunkelroten Hauswein für ein paar Lire. Seine Frau war die Seele des Jugendhauses und gleichzeitig der Feldwebel, der sicher auch in der Ehe die Hosen an hatte. Sie hatte ein Auge auf alles, brachte uns mittags Salamibrötchen und Wassermelonen ans Strandbad, natürlich auf der Vespa, die sie mit italienischem Brio beherrschte.

Es waren Sommertage, die wir wie zum ersten Mal erlebten. Natürlich ging es in den ersten Tagen gleich in einem halbstündigen Fußmarsch bergabwärts ans Seeufer, wo wir uns bis zum Spätnachmittag aufhielten, hinausschwammen, uns in der südlichen Sonne bräunten und erste Freundschaften schlossen. Abends genossen wir die ungewohnte südlich milde, mit den Düften der Macchia getränkte Luft, die den Hang heraufwehte.
Doch schon bald hielt es Ekke nicht länger: er wollte endlich malen, zunächst natürlich Landschaften. Wir wanderten zu einem nicht weit entfernten Pinienwäldchen am Hang. Er legte los, skizzierte das Gewirr der Stämme vor ockerfarbigem Hintergrund und überwölbt vom italienischen Himmel, viel von Cézanne und ein wenig van Gogh dabei, und hatte schon nach knapp zwei Stunden seine erste 'paysage' fertig. Abends wurde das Bild begutachtet und fand zustimmende aber auch kritische Kommentare: es war sicher viel zu unkonventionell. Am nächs- ten Tag setzten wir unsere Versuche fort. Ich wollte es ihm natürlich gleichtun und verfertigte eine Ansicht vom Gardasee mit viel Blau, Violett und Grün, die am Abend mehr Beifall einheimste und die die Wirtin, Frau Joos, gegen 50 DM erstand. Davon konnte ich mir bei unserem nächsten Besuch in Riva einen Malkasten mit Ölfarben leisten, mit dem ich dann auch ein zweites Bild, eine Bergkirche, malte (ganz begabt für mein Alter, mein Großvater war schließlich auch Kirchen- maler gewesen), während Ekke konventionsfrei alles aus sich heraus auf die Leinwand brachte.
Dieses Bild des Bergkirchleins hängt heute noch bei mir und ruft mir jedesmal unsere unbeschwerte Zeit von Riva ins Gedächtnis.
Die Tage vergingen natürlich wie im Flug. Wir unternahmen Expeditionen in die nähere Umgebung. Es lockte die Cascata Varone, ein nahegelegener kleiner Wasserfall in einer grünüberwucherten Schlucht, aus der feuchtwarmer Dunst aufstieg, wo man Äpfel stibizen oder duftende reife Brombeeren pflücken konnte. Der kleine Tennosee, ein kühler glasklarer Bergsee oberhalb unseres Domizils, Torbole am Ende des Gardasees gegenüber von Riva und natürlich Malcesine waren die nächsten Ausflugsziele.

Abends ging es hin und wieder zum Tanz nach Riva, wohin wir die mitgereisten jungen Damen ausführten. Es konnte aber passieren, dass der Rückweg spätabends weniger romantisch angehaucht war, da uns ein paar Mal heftige Gewitter bis auf die Haut durchnässten.

Ekke malte unablässig, wenn immer Zeit dafür da war, im Garten, am Berghang, und schon damals war klar, dass für ihn nichts anderes in Frage kommen würde. Als er dann später mit ungebrochener Leidenschaft auch größere Formate anging und ich ihn an die Stuttgarter Kunstakademie begleitete, wo er seine Arbeiten einem befreundeten Professor vorlegen konnte, war der Übergang zur Professionalität geschafft.
Höhepunkt und Abschluss unseres Aufenthalts im damaligen Italien (man erinnert sich: Tropfkerzen auf leeren Chiantiflaschen, die Canzone von Domenico Modugno oder Rocco Granata aus Kofferradios, Pizza und Tomatensalat) war der Ausflug nach Venedig : warm, exotisch, die Lagune an blassgoldenem Blau und ungewohnten Gerüchen nicht zu überbieten. Wir sogen alles auf, bevor wir abends ein letztes Mal mit dem Vaporetto über den Canale grande zum Bus zurückfuhren.

Vielleicht hat diese Zeit am Gardasee von Ferne auch in die ungewöhnlich optimistische Farbigkeit seiner letzten, sicher unter großen Mühen und mit viel Selbstdisziplin erkämpften Blätter hineingewirkt. Wir wissen es nicht.

was bleibt? Die Erinnerung an einen Menschen von großer Herzlichkeit, nachdenklich, auch voller Galgenhumor, der seinen Weg ging und blieb, was er von Beginn an war: ein erster bester Freund, mit dem ich sozusagen ins 'Leben' trat und den ich – kleinere oder größere Unterbrechungen eingeschlossen, immer wieder traf. Dann aber war es so, als wären wir nie getrennt gewesen.